Umschriebene Entwicklungsstörung motorischer Funktionen (UEMF)
Ungeschickte Kinder, deren Handschrift nicht gelesen werden kann oder die ihre Schuhe nicht zubinden können, fallen im Alltag auf. Es handelt sich dabei nicht um einen Einzelfall oder einfach um Ungeschicklichkeit (Blank & Vinçon, 2020). Die umschriebene Entwicklungsstörung motorischer Funktionen (UEMF) ist die zweithäufigste Diagnose auf Ergotherapie Verordnungen in Deutschland 2019 (Statista, 2021). Diese Diagnose führt dazu, dass mehr als 5% der Kinder im Schulalter (Statista, 2021) eine Ausgrenzung in ihrem Alltag erleben, da sie nicht in der Lage sind zum Beispiel beim Spielen Bälle zu fangen, über ein Seil zu springen, mit ihren Freunden Fahrrad zu fahren oder sie werden in der Schule oft wegen ihrer Ungeschicklichkeit und Unordnung ermahnt. All dies führt dazu, dass diese Kinder weniger Selbstvertrauen haben, weniger in der Lage sind, Freundschaften zu schließen, und sich im schlimmsten Fall selbst isolieren.
Die Umschriebene Entwicklungsstörung motorischer Funktionen kann sich in jedem Alter bemerkbar machen. Meist wird man darauf aufmerksam, bei dem Übergang von Kindergarten in die Schule, wenn die Kinder z.B. die Schuhe nicht binden können. In verschiedenen Studien konnte festgestellt werden, dass der Anteil von UEMF bei Jungen höher liegt als bei Mädchen (Sujatha, Alagesan, Lal & Rayna, 2020).
In Anlehnung an die „Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“ (ICD-10) („Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: ICD-10-WHO“, 2021) wird die Entwicklungsstörung in vier Untertypen unterteilt, die auch gemeinsam oder in Kombination auftreten können. Sie kann in der Grobmotorik (F82.0), der Fein- und Graphomotorik (F82.1), der Mundmotorik (F82.2) und bei nicht näher bezeichneten motorischen Störungen auftreten.
Unter Bezugnahme auf Blank und Vinçon (2020) und die Klassifikation haben alle Arten von UEMF gemeinsam, dass die Störung ausnahmslos im Säuglingsalter oder in der frühen Kindheit beginnt. Die Entwicklungsverzögerungen oder Funktionseinschränkungen sind somit mit der biologischen Reifung des zentralen Nervensystems verbunden. Entgegen der überholten Annahme, dass sich die Entwicklungsstörung auswächst, deuten die aktuellen Erkenntnisse darauf hin, dass es sich bei UEMF um eine wiederkehrende und remittierende Störung handelt.
Die American Psychological Association hat das Klassifikationssystem „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM-V) veröffentlicht, das vier Diagnosekriterien formuliert hat, die auch in den Leitlinien enthalten sind (Blank & Vinçon, 2020).
Kriterium 1:
Motorische Fähigkeiten, die deutlich unter dem Niveau liegen, das aufgrund des Alters des Kindes und angemessener Möglichkeiten zum Erwerb der Fähigkeiten zu erwarten wären. Sie fallen meist durch unvorsichtige und ungeschickte Bewegungen auf, die nicht selten dazu führen, dass sie jemanden anrempeln oder etwas umstoßen. Das Kind hat möglicherweise Schwierigkeiten, sicher mit dem Fahrrad oder Dreirad zu fahren. Möglicherweise kann es nicht innerhalb der Linien schreiben oder zeichnen, und auch das Fangen und Werfen von Bällen kann sich als Schwierigkeit erweisen. Um ein Beispiel zu nennen: Aktivitäten, die die Koordination beider Körperhälften erfordern, wie Schneiden mit der Schere, Springen oder Fahrradfahren, stellen für diese Kinder eine große Herausforderung dar (Missiuna, Rivard & Pollock, 2011).
Kriterium 2:
Das zweite Kriterium bezieht sich auf die Auswirkungen der in Kriterium 1 beschriebenen Einschränkungen auf das Alltagsleben. Hier werden sowohl die Aktivitäten des täglichen Lebens als auch die schulischen Leistungen einbezogen. Typischerweise werden Einschränkungen in allen Bereichen der Teilhabe (Selbstversorgung, Produktivität und Freizeit) wahrgenommen; ist dies nicht der Fall, wird die Diagnose einer UEMF nicht gestellt.
Kriterium 3:
Dieses dritte Kriterium weist darauf hin, dass die Einschränkung der motorischen Fähigkeiten, wie bereits oben beschrieben, im Kindesalter sichtbar werden muss. Erst dann kann sie als UEMF diagnostiziert werden.
Kriterium 4:
Das letzte Kriterium beschreibt, dass ausgeschlossen werden muss, dass die primäre Ursache der Beeinträchtigung nicht auf eine andere medizinische, neurologische oder psychologische Diagnose zurückzuführen ist, wie z. B. infantile Zerebralparese oder Autismus-Spektrum-Störung.
UEMF kann isoliert auftreten, ist aber häufig mit anderen Störungen wie Lernbehinderungen und Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom verbunden. Diese Art der motorischen Beeinträchtigung ist eine chronische, nicht heilbare Erkrankung und führt, wenn sie nicht behandelt wird, zu massiven Herausforderungen im täglichen Leben, auch im fortgeschrittenen Alter (Missiuna & Pollock, 2015).
Kinder mit UEMF erleben häufig psychosoziale Probleme in ihrem Alltag (Zwicker, Suto, Harris, Vlasakova & Missiuna, 2017 oder Mandich, Polatajko & Rodger, 2003). Blank und Vinçon (2020) zeigten, dass eine hohe Anzahl von Personen unter Problemen mit Gleichaltrigen (53 %) oder emotionalen Problemen (70 %) leidet. Auch der Anteil der Kinder mit UEMF und Aufmerksamkeitsdefiziten wie ADHS (50-60 %) ist relativ hoch. Diese Kinder haben häufig mit sozialen Ängsten, einem geringeren Selbstkonzept und Selbstwertgefühl zu kämpfen. In der Literatur wird die Auswirkung von Beeinträchtigungen der motorischen Fähigkeiten auf das Selbstwertgefühl recht häufig diskutiert (McWilliams, 2005; Zwicker et al., 2013; Cairney, Rigoli & Piek, 2013). Aufgrund der Schwierigkeiten beim Erlernen motorischer Fähigkeiten erleben Kinder mit UEMF im Alltag ständig Rückschläge und Misserfolge.
Kinder verbringen die meiste Zeit mit motorischen Aktivitäten, insbesondere im Alter von fünf bis zehn Jahren, was bei Kindern mit UEMF zu einem hohen Maß an Frustration führt (McWilliams, 2005). Es ist zu beobachten, dass diese Kinder motorische Aktivitäten als Schutz vermeiden und sich dadurch gleichzeitig von Gleichaltrigen isolieren. Dadurch ist das Kind in seiner sozialen Teilhabe und in der Entwicklung neuer Fähigkeiten stark eingeschränkt. Dies führt zu einem geringen Selbstwertgefühl, einer geringen Selbstwirksamkeitserwartung und einem negativen Selbstbild. Soziale Ängste entstehen oft durch die Isolation, da das Kind weniger Möglichkeiten hat, soziale Fähigkeiten im Umgang mit Gleichaltrigen zu entwickeln (McWilliams, 2005).
All dies hat große Auswirkungen auf die Teilhabe und die Lebensqualität des Kindes sowie auf seine psychologische Entwicklung. Wie bereits in der Studie von Sujatha B., Alagesan, Lal und Rayna (2020) gezeigt wurde, ist die Rate signifikant hoch, was neben einer frühen Diagnose auch eine effiziente Behandlung erfordert. Dadurch können auch Komorbiditäten im sozio-emotionalen Bereich frühzeitig verhindert werden, denn Untersuchungen an Erwachsenen mit DCD zeigten eine hohe Rate an Depressionen und Angststörungen aufgrund eines geringen Selbstwertgefühls (Blank & Vinçon, 2020).
Da es sich bei UEMF nicht um eine Entwicklungsstörung handelt, die sich im Laufe der Zeit ohne Therapie bessert, und die Rate der Betroffenen sehr hoch ist, wurde 2020 eine überarbeitete Version der S3-Leitlinie für Diagnose und Therapie veröffentlicht (Blank & Vinçon, 2020). Diese besagt, dass bei der Behandlung von motorischen Beeinträchtigungen ein aktivitäts- und teilhabeorientierter Ansatz verfolgt werden sollte. In der Literatur und Forschung gibt es beispielsweise gute Evidenz für den Cognitive Orientation to Daily Performance Ansatz (CO-OP ApproachTM).
Therapie:
Die hohe Prävalenz, die langfristigen Auswirkungen auf den Alltag dieser Kinder und die langen Wartelisten in ergotherapeutischen Praxen machen deutlich, dass es einen hohen Bedarf an einer effektiven und klientenzentrierten Behandlungsmöglichkeit gibt. Die 2020 veröffentlichte Leitlinie zur Behandlung von UEMF empfiehlt für das Einzelsetting den Einsatz des bereits gut erforschten Cognitive Orientation to daily Occupational Performance Approach, kurz CO-OP AnsatzTM, (Blank & Vinçon, 2020). Dies gilt nicht nur als evidenzbasiert, sondern entspricht auch dem neuen Paradigma der Ergotherapie.
Der CO-OP AnsatzTM ist ein evidenzbasierter Ansatz für Kinder mit UEMF aber auch für andere Störungsbilder. Durch die Kinderziele ist ein effektives Arbeiten mit der Globalen Strategie “Ziel-Plan-Tu-Check” gewährleistet. Die Kinder erlernen die Globale Strategie an ihren eigenen motorischen Zielen und sind so motivierter sich an die Ziele der Eltern/ Lehrer zu wenden. Bei diesem Ansatz ist eine gute Zusammenarbeit von Kindern, Eltern/ Lehrern und TherapeutInnen wichtig, um die Strategie zu festigen.
Dieser Ansatz wurde in Kanada speziell für UEMF Kinder entwickelt und validiert.
Unser Tipp:
Wenn Ihr Kind die Diagnose Umschriebene Entwicklungsstörung motorischer Funktionen (UEMF) hat, es ist wichtig zu wissen, dass Ihr Kind nicht durch vormachen/ nachmachen lernt oder das es hilft es zurecht zuweisen in dem Sie sagen, es soll sich konzentrieren. Die oben genannten Beispiele führen zu noch mehr Frustration und Ablehnung aller motorischen Aufgaben. Die UEMF wird nie weggehen, das Ziel ist durch die Therapie ihrem Kind Strategien beizubringen, wie es damit umgehen kann, ohne im Leben beeinträchtig zu werden. Diese Strategie wird mit dem CO-OP AnsatzTM verfolgt. Bei CO-OP ist es wichtig, dass Sie als Elternteil mit dem/der TherapeutIn zusammenarbeiten und sich an die Absprachen halten.